Der Radsport ist Schlagzeilen und Skandale gewohnt: Jahrelang war Doping bzw. der (erfolgreiche/lose) Kampf dagegen Thema Nummer 1, die Leistungen der Athleten trat in den Hintergrund. Kürzlich sorgte das Corona-Chaos beim Giro d’Italia (dem zweitgrößten Radrennen der Welt) für Aufsehen, das zur Rückkehr strikter Schutzmaßnahmen im Peleton führte. Und erst unlängst schockierte der tragische Tod des Schweizer Radstars Gino Mäder die Szene, der nach einem Rennsturz ums Leben kam.
von Christian Klosz
Dennoch standen in den letzten paar Jahren – nach der Doping-Hochzeit – wieder vermehrt sportliche Leistungen im Mittelpunkt. Etwa beim sensationellen Sieg von Tadej Pogacar am vorletzten Renntag der Tour de France 2020 oder beim Battle zwischen Pogacar und seinem Konkurrenten Jonas Vingegaard bei der Tour 2022.

Der Radsport schreibt epische, manchmal mythische Geschichten, die seine Fans seit jeher begeistern. Und im Zentrum des Interesses steht dabei meist die Tour de France, die mythischste aller Radrundfahrten. Netflix setzt der Tour mit der 8-teiligen Doku-Serie “Tour de France – Im Hauptfeld” ein Denkmal, dessen Sichtung sich zum Start der heurigen Rundfahrt am 1.7. anbietet.
Die Serie begleitete bei der Tour 2022 viele Teams und Fahrer bei ihrer Arbeit. Es ist eine Mischung aus Live-Aufnahmen der Renn-Etappen, Aufnahmen abseits des Renngeschehens – etwa bei Vorbereitungen der Teams -, privaten Aufnahmen einzelner Fahrer und Interviews mit Teamchefs und Athleten, die (leider sehr offensichtlich) nach der Tour gefilmt wurden, während sie den Anschein geben sollen, während der Renntage entstanden zu sein. Begleitet wird all das durch die Off-Stimme des “Tour-Radios.
Ganz allgemein offenbart “Tour de France – Im Hauptfeld” formale Schwächen: Aufbau und Schnitt sind nicht wirklich gelungen und nicht immer passen die zusammenmontierten Sequenzen zueinander. Besonders nervig ist, dass das Renngeschehen zwar grob chronologisch wiedergegeben wird, es manchmal aber auch irritierende Zeitsprünge gibt: So sieht man etwa in einer Folge die Zieleinfahrt der Sieger einer bestimmten Etappe, während die Vorgänge im Hauptfeld, das öfter nach den “Ausreißern” ins Ziel kommt, erst in der nächsten Folge gezeigt werden. Die Schwerpunktsetzung wirkt oft inhomogen, manchmal stehen bestimmte Teams im Fokus, dann einzelne Fahrer, deren “persönliche Geschichte” bei der Tour beleuchtet wird (was das Vor- und Zurückspringen zwischen den Etappen bedingt), sportliche Leiter, dann wieder der eigentliche Rennverlauf und der Kampf der Favoriten. Insbesondere das Renngeschehen und der Sport selbst, bzw. dessen genuiner Reiz, wird so nicht gut vermittelt.
Trotzdem: Die Sequenzen abseits der Rennstrecke sind auch für eingefleischte Radsport-Fans von Interesse. Man lernt große Namen näher kennen, sieht eine persönliche Seite von ihnen, die man sonst in der Form kaum zu sehen kriegt: Athleten wie Wout van Aert, Jonas Vingegaard, Jasper Phillipsen oder Geraint Thomas gewähren private Einblicke und geben in den Interviews auch einiges ihrer Persönlichkeit preis. Selbiges trifft auf manche Teamchefs und sportliche Leiter zu, die Einblicke in taktische Überlegungen geben und veranschaulichen, dass der professionelle Radsport ein komplexes Unterfangen mit vielen Parametern ist, die es zu beachten gibt.
Insgesamt ist es vermutlich auch eine Frage der Perspektive, von der aus man auf “Tour de France – Im Hauptfeld” blickt: Für Menschen, die bisher wenig bis nichts mit dieser Sportart zu tun hatten, bietet die Doku wohl spannende Erkenntnisse, denn es gelingt ihr, die Spezifika des Profi-Radsports abzubilden und auch für “Außenstehende” nachvollziehbar zu machen. Man muss davon ausgehen, dass die Doku ohnehin in erster Linie als “Image-Film” für die Tour und den Radsport an sich gedacht ist, der seine düstere Doping-Vergangenheit (?) abschütteln will.

Gleichzeitig liegt hierin auch die größte Schwäche der Serie: Das Thema Doping wird gar nicht oder nur in wenigen, unbedeutenden Nebensetzen in Interviews erwähnt. Auskennern ist klar, dass die meisten heutigen sportlichen Leiter selbst Doping-Vergangenheit als Ex-Profis haben oder als Teamchefs früher schon daran beteiligt waren. Ob dieser Sport heute “sauber” ist, kann nicht gesagt werden, und immer wieder veranlassen Leistungen der neuen Superstars des Radsports Spekulationen, ob wirklich alles mit rechten Dingen zugeht. Zumindest ein direkteres Eingehen auf das Thema wäre wünschenswert gewesen, wenngleich natürlich schon die Tatsache, dass viele Teams einer Filmcrew Zutritt in die Teambusse, Teamhotels und zu den Fahrern erlauben, für gewachsene Transparenz im Radsportzirkus spricht. Ähnliche Offenheit hätte man sich übrigens auch beim Thema Corona gewünscht, das mit keinem Wort angesprochen wird, während man in jeder Aufnahme zig Fahrer und Funktionäre mit Maske sieht, eine Angewohnheit, die man sich im professionellen Radsport vernünftigerweise erhalten hat, da man um die drastischen möglichen, auch langfristigen Auswirkungen von Infektionen auf die Gesundheit und Fitness der Athleten weiß.
Fazit
Für Menschen, die bisher kaum mit Radsport zu tun hatten, bietet die Netflix-Doku “Tour de France – Im Hauptfeld” spannende und informative Einblicke in eine einzigartige Sportart, die körperliche Höchstleistung mit taktischem Gespür verbindet wie kaum eine andere. Manche Sportler-Porträts sind durchaus erhellend, während die Serie an manchen Stellen zu oberflächlich bleibt und formal an einigen Schwächen zu knabbern hat.
Bewertung
(71/100)
Die Tour de France 2023 startet am 1.7. im spanischen Bilbao und wird von Eurosport übertragen. “Tour de France – im Hauptfeld” ist derzeit auf Netflix zu sehen.
Bilder: (c) A.S.O./Charly Lopez (Titelbild) / (c) Netflix