Dass sich gerade Stanley Kubrick Vladimir Nabokovs unverfilmbar geltendes „Skandalwerk“ vornahm, erscheint folgerichtig: Der Regisseur scheute nie vor Kontroversen zurück und war ein Meister der anspruchsvollen Filmkunst, die dennoch im Mainstream ihren Platz fand (bestes Beispiel: „2001: Odyssee im Weltraum“).

von Christian Klosz

Allerdings legte ihm Nabokov, der selbst das Drehbuch zur Filmadaption von „Lolita“ verfasste, ein gleichermaßen unverfilmbares Skript vor, das Kubrick eingehend überarbeiten musste, bevor er die Kamera anwerfen konnte. Das Resultat wich zwar vom literarischen Vorbild ab, aber ergab ein in sich stimmiges Werk, das die Zeit überdauert hat.

Als „skandalös“ galt der Film damals, 1962, obwohl „Lolita“ keine einzige, eindeutige „Sexszene“ zwischen middle-aged-man Literaturwissenschaftler Humbert Humbert (James Mason) und der 14-jährigen „Lolita“ Haze enthält (die von der damals gleichaltrigen Sue Lyon verkörpert wurde), der dieser bei seinem Sommeraufenthalt im beschaulichen Örtchen Ramsdale, Ohio ganz und gar verfällt. Die Production Codes wurden geschickt umschifft, sodass das, worum es geht, zwar spürbar ist, aber nie sichtbar.

Das Resultat ist kein provokativer „Skandalfilm“ im klassischen Sinne, vielmehr eine feine, schwarzhumorige, psychologische Studie über die Abgründe eines Mannes, der sich nach außen solide gibt, aber von seiner eigenen Perversion ergriffen und ihr verfallen ist. Humbert ist ein amoralischer, verquerer, schwacher Charakter, dem durch (un)glückliche Umstände etwas in den Schoß fällt, dass zugleich sein größtes Glück und Unglück sein sollte: Ein reizendes, schönes, zu junges Mädchen, das er begehrt, nicht begehren darf, es trotzdem tut – und sein Untergang sein sollte.

Kubrick fängt die seltsam unterhaltsame Handlung gewohnt gekonnt ein, bringt seine Darsteller zu großen Leistungen, aus denen Peter Sellers als Humberts „Nebenbuhler“, der Autor Quilty, hervorsticht, der wohl eine der besten Performances der 1960er hinlegt.

Vordergründig schildert Kubrick die unerhörte Affäre empathisch und zeichnet auch Humbert nicht als Teufel, Lolita nicht als verführerische „Nymphe“ oder als hilfloses Opfer. Doch die kluge Subversion ist es am Ende, die den perfiden Paraphilen hintergründig und mit subtiler, ironischer Schärfe als das entlarvt, was er ist: Ein nur scheinbar kultivierter Widerling, ein missratener und bemitleidenswerter Charakter, der selbst zu feige ist, sich seine eigene Abartigkeit einzugestehen – eine Komplexität der Figurenzeichnung, gespeist vom Mut zur Uneindeutigkeit und Ambivalenz bei eindeutiger moralischer Klarheit, die man in aktuellen filmischen Werken sehr oft vergeblich sucht.

Bei diversen Anbietern als VOD zu leihen/laufen und auf DVD/BluRay verfügbar.

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In der Diskussion um (filmische) Vorbilder, Denkmäler, Monumente mag vielleicht ein nüchterner Blick helfen: Filme sind stets Kinder ihrer Zeit (manche auch ihrer Zeit voraus), da mag es wenig verwundern, dass die Darstellungsformen in manchem “Filmklassiker” heute befremdlich wirken. Doch Geschichte – und so auch Kunstgeschichte – ist beweglich, nie endgültig, – und was werden Betrachter in 20, 30, 50 Jahren über die Filme sagen und denken, die wir heute feiern?

Filme werden neu interpretiert, neu rezipiert, neu verstanden, so oder so, und es ist schlicht unmöglich, Filme und Kunst “final” zu bewerten (“gut” – “schlecht”; “gut” – “böse”) oder nur eindimensional zu lesen. Denkmäler für filmische Ikonen und Vor-Bilder, nach denen Generationen von Filmemachern ihr Werk nach-gebildet haben, sind absolut wichtig und richtig, wenngleich die Beschilderung und Beschriftung der cineastischen Statuen immer wieder verändert und adaptiert werden muss.

In der Reihe “Vor-Bilder” präsentiert Christian Klosz, Gründer von filmpluskritik.com, filmische Meilensteine und Monumente, “Klassiker”, wie man so schön sagt, die eine herausragende Bedeutung für das Medium hatten und haben, die nicht gestürzt werden sollten, sondern viel eher wiederentdeckt und vor den Vorhang geholt.

#1: “Charade” von Stanley Donen, 1963

#2: “Heat” von Michael Mann, 1995

#3: “Meatballs” von Ivan Reitman, 1979

#4: “The Good, the Bad and the Ugly” von Sergio Leone, 1966

#5: “Carrie” von Brian de Palma, 1976

#6: “Touch of Evil” von Orson Welles, 1958

#7: “True Romance” von Tony Scott, 1993

Bilder: Fair Use / public domain