1972 singt Rio Reiser “Keine Macht für Niemand” und beschreibt darin den Kampf gegen die Unterdrückung durch das eigene Land. “Kein Land für Niemand”, der Titel einer Dokumentation über die Veränderungen in der europäischen und vor allem deutschen Migrations- und Asylpolitik, erinnert nicht von ungefähr an diesen Songtitel, handelt der Film doch von ähnlichen Phänomenen. Eine herrschende Gemeinschaft, die darüber entscheidet, was mit denjenigen, die nicht zu ihr gehören, geschehen soll. Ab 3.10.2025 in den deutschen Kinos.

von Richard Potrykus

Am 31.01.2025 wird im deutschen Bundestag über einen Entschließungsantrag abgestimmt, der umfassende Abweisungen von Migrant*innen an den deutschen Grenzen vorsieht, selbst wenn sie um Asyl bitten wollen. Der Antrag wurde von der Union auf die Tagesordnung gesetzt und konnte nur deshalb angenommen werden, weil auch Abgeordnete der als gesichert rechtsextrem eingestuften AfD dafür stimmten. Der Erfolg dieses Antrags ist Ausgangspunkt für die Dokumentation “Kein Land für Niemand”, die von Max Ahrens und Maik Lüdemann inszeniert wurde und den Untertitel “Abschottung eines Einwanderungslandes” trägt.

Ein Tabubruch als Startpunkt

Was folgt sind 111 Minuten, in denen der Film Ereignisse und Prozesse darstellt, die sich im Vorfeld dieses Entschließungsantrags abspielten und die, wenn auch nicht kausal eindeutig, doch darauf hinarbeiteten und eine Atmosphäre schufen, die den Antrag erst ermöglichten. Selbst Menschen, die sich nicht allabendlich vor den Fernseher setzen und die Tagesschau verfolgen, werden die Akteure und Begrifflichkeiten kennen, die im Film gezeigt und genannt werden. Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, Giorgia Meloni, Ministerpräsidentin von Italien und Vorsitzende der profaschistischen Fratelli d’Italia, Kinga Gál, EU-Abgeordnete der ultranationalistischen ungarischen Partei Fidesz – sie alle sind zu sehen und in Teilen zu hören. Dazu kommen Begriffe wie die Drittstaatenregelung, FRONTEX und die GEAS-Reform, Länder wie Griechenland, Italien und Libyen und Orte wie das Lager Moria.

Der Film orientiert sich an diesem Mosaik aus einem menschenverachtenden Best-of der Schlagzeilen der vergangenen zehn Jahre, populistischem Bullshit-Bingo und nur sehr schwer einzuhaltenden Szenen -so schwer, dass der Film mit einem Disclaimer beginnt, der das Publikum genau darauf vorbereitet.

Doch “Kein Land für Niemand” ist keine reine Chronologie der Ereignisse und will dies auch gar nicht sein. Neben den Einspielern aus Fernsehbeiträgen und Schlagzeilen aus diversen Zeitungen zeigt der Film gänzlich unverblümt, welche direkten Konsequenzen das europäische Handeln hat und was Menschen erwartet, wenn sie sich auf den Weg über das Mittelmeer nach Europa machen.

„Wir schaffen das“

Als zu Beginn der 1990er Jahre der erste Golfkrieg tobt und die Nachrichten schwarz-grüne Nachtsichtaufnahmen präsentieren, in denen Artilleriefeuer die Seiten wechselte, vermittelt dies den Eindruck eines Videospiels. Krieg hatte eine neue Qualität erhalten und wirkte auf perfide Art unterhaltend und insofern irreal, als dass er weit entfernt zu sein schien und nicht Teil des eigenen Lebens.

Mit der Migrationskrise ab 2015 verlief es ähnlich und doch anders. Dass viele Menschen nach Europa fliehen würden, war schnell klar und konnte nicht weggewischt werden. Nicht zuletzt durch Merkels Ansprache des “Wir schaffen das” brach eine Euphorie aus, die keine Konflikte zuließ. Man zeigte sich solidarisch, allerorts wurde Menschen geholfen. Zwar erreichten immer wieder schreckliche Bilder die Medien und wurde von ertrunkenen Kindern berichtet, doch in dem Jahr, in dem Instagram bereits fünf Jahre alt war und TikTok nur zwei Jahre in der Zukunft lag, waren diese tragischen Eindrücke so schnell verschwunden, wie sie gekommen waren.

Und das ist der Punkt, an dem “Kein Land für Niemand” auf besondere und eindrückliche Weise ansetzt, denn immer wieder zeigen die Filmemacher Boote, die auf dem Meer treiben, gejagt von Schiffen einer Küstenwache. Die Boote werden angegriffen, die Menschen mit Gegenständen beworfen. Das Videomaterial stammt von Sea-Eye, einer deutschen Hilfsorganisation, die sich der Seenotrettung verschrieben hat.

Angesichts dieser Aufnahmen werden etwaige Ängste wohlbehüteter Festlandeuropäer sehr schnell sehr nichtig und wenn dann noch Kräfte von Frontex gezeigt werden, jener Agentur der Europäischen Union, die die Grenzen des Schengen-Raums schützen soll, die mit langen Schlagstöcken auf unbewaffnete Menschen einschlagen, nur weil diese aus Gründen des Überlebens versuchen, über einen Zaun zu klettern, dann weicht die Irritation über eine EU, die vorgibt, den Schutz von Menschenleben und Menschenwürde zu verfolgen, einer schieren Fassungslosigkeit, angesichts von Taten, die nicht nur geduldet werden, sondern erwünscht sind.

„Kein Land für Niemand“ zeigt Bilder, die schockieren

Die Dokumentation wechselt unentwegt zwischen diesen beiden Seiten des Konflikts und macht aus dem Publikum selbst eine Art Flüchtling, der sich nach und nach immer weniger auskennt. Schon früh wird in „Kein Land für Niemand“ beschrieben, wie der einzige legale Weg aussieht, den ein Mensch einschlagen kann, um in Deutschland um Asyl anzusuchen, und es klingt so einfach. Man muss nur in ein deutsches Konsulat gehen und dort das Anliegen vorbringen -blöd nur, wenn man entweder keine Papiere hat oder kein Konsulat in der Nähe ist.

Zwischen 2014 und 2025 werden im Mittelmeer über 32.000 Menschen den Tod finden – wie das aussehen kann, zeigt der Film. Diejenigen, die es schaffen, kommen ins Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos – auch das zeigt die Dokumentation. Gezeigt wird auch ein Einzelschicksal eines Mannes, der mit seiner Familie aus dem Iran flieht und ganze drei Jahre in Moria zubringen muss.

All diese Bilder sieht man in Deutschland zur Zeit, da sie geschehen, nicht oder kaum. Moria ist ein Thema, aber mehr auch nicht, und so entsteht nur ein paar Jahre später das Phänomen der Bezahlkarte, denn in Deutschland scheint schnell klar zu sein, dass Immigrant*innen vor allem eines bedeuten – eine Position im Finanzhaushalt. Es ist an Stellen wie dieser, an denen deutlich wird, wie medial abgeschottet Deutschland sein kann, wie eigene, teils imaginierte Positionen ohne Widerspruch entstehen und wachsen können und wie eine Greizer Landrätin, die sich auch nach Jahren noch damit brüstet, eine Bezahlkarte für Asylbewerber*innen eingeführt zu haben, nur der Anfang ist.

kein land für niemand film 2025

Populistische Positionen in ihre Einzelteile zerlegt

Je näher der Film dem Heute rückt, desto aggressiver werden die Gesetze und desto plakativer die Argumentationen, bis sich schließlich auch der aktuelle deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz zu Wort meldet und davon faselt, deutsche Staatsbürgerinnen würden aufgrund von Immigrant*innen keine Termine mehr bei Zahnärzt*innen bekommen.

“Kein Land für Niemand” greift diverse Schlagworte auf, die in der medialen Berichterstattung und der Debatte verwendet werden, um zu rechtfertigen, weshalb ein umfassender Protektionismus angeblich so wichtig sei, und jedem dieser Begriffe wird eine Person gegenübergestellt, die diesen Protektionismus in Frage stellt und ihm begründet widerspricht. Damit zeigt der Film Lösungen auf, wie es besser gehen könnte. Nach und nach werden all die populistischen Positionen in ihre Einzelteile zerlegt und so entmystifiziert.

Und doch bleibt die Schlusspointe aus. Das Letzte, was man in dem Film sieht, ist der Schriftzug “Nie wieder ist jetzt”. Es gibt kein versöhnliches Ende, keinen konkreten Hoffnungsschimmer, keinen Strohhalm, nach dem man greifen kann. Was bleibt, sind Menschlichkeit auf der einen Seite und Ignoranz auf der Seite derer, die über die Menschlichkeit entscheiden.

Von der Mathematik heißt es, sie wäre nüchtern und kenne keine Moral. Um den Status Quo zu erhalten, bedarf es laut Film einer jährlichen Nettozuwanderung von rund 400.000 Menschen. Berücksichtigt man, dass viele Immigrant*innen das Land auch wieder verlassen, ergibt sich eine benötigte Brutto-Zuwanderung von 1.500.000 Menschen.

Allein, in „Kein Land für Niemand“ wird deutlich, dass, wenn es um Politik geht, die Mathematik sehr wohl emotional ist, denn diese Zahlen werden nicht diskutiert. Was indes nicht nur Beachtung erhält, sondern sogar Werkzeug der Politik wird, sind die Bürgergeldzahlungen, die wahlweise an Arbeitslose oder eben Asylbewerber*innen ausgezahlt werden. Dieses Spannungsverhältnis scheint wesentlich ertragreicher als die benötigte Zuwanderung zu sein.

Fazit

“Kein Land für Niemand” bietet einen schonungslosen Blick auf eines der wichtigsten Themen des 21. Jahrhunderts und zeigt auf, wie sehr wir in der medialen Repräsentation gefangen sind, während aggressive Kräfte genau diese Repräsentationen nutzen, um an Macht zu gewinnen. Die Dokumentation zeigt nicht mit dem Finger auf die Akteure. Der Film ist weitgehend stumm und wirkt durch die Bilder. Natürlich sind die einzelnen Sequenzen und Texttafeln wohl arrangiert, keine Frage, aber jeder Moment spricht für sich. Die Klarheit der Bilder gibt jedem Menschen im Publikum die Möglichkeit, sie einzuordnen und für sich zu verarbeiten und es ist an genau diesen Menschen, die Zukunft zu gestalten.

Nie wieder ist jetzt.

Bewertung

Bewertung: 10 von 10.

(95/100)

Weiter Infos zum Film

„Kein Land für Niemand“ – Trailer

Bilder: © 2025 Nashorn Filmhaus KG