Ganze 14 Nominierungen und anschließend sieben Gewinne konnte das Kostümhistoriendrama „Verlorene Illusionen“ beim wichtigsten französischen Filmpreis, den César Awards, verbuchen. Als Vorlage diente Regisseur Xavier Giannoli die Romanserie von Honoré de Balsac aus den 1830er und 40er-Jahren. Trotz der betagten Vorlage ist „Verlorene Illusionen“ weder die eingestaubte Historientragödie noch die melodramatische Seifenoper, die man angesichts des korsettierten Settings und der Flut aus Schubert oder Beethoven vielleicht vermuten würde.
von Madeleine Eger
Denn die Geschichte, die von korrupter Zerstörung naiver Unschuld und ambitionierten Träumen im Journalismus erzählt, zieht erstaunlich aktuelle Parallelen. Und das nicht nur wegen der unzähligen gedruckten „Fake News“ Enten oder dem Brieftauben „Getwitter“. Wenn Zeitungen den Kult um Slogans und Provokationen zelebrieren, Meinungen und Stimmungsmacher erkauft werden und der Duft des Geldes den einstigen Künstler zum heuchlerischen Influencer werden lässt, sind 200 Jahre Zeitgeschichte schnell vergessen.

1821 in einer kleinen Stadt im Südwesten Frankreichs träumt der 20-Jährige Lucien (Benjamin Voisin) von einem anderen und erfolgreicheren Leben als Schriftsteller. Während er in einer Druckerei arbeitet, schreibt er Gedichte und beeindruckt damit die Aristrokratin Louise de Bargeton (Cécile de France), die ihn mit nach Paris nimmt. In Anbetracht eines handfesten Skandals um die Affäre, lässt sie ihren Liebhaber jedoch nach nur wenigen Tagen fallen. Als Lucien daraufhin im Restaurant arbeiten muss, lernt er zufällig Etienne (Vincent Lacoste) kennen. Etienne, Chefredakteur für die örtlichen Zeitungen, sieht Potenzial im Neuankömmling und führt ihn in die Welt des Journalismus ein. Und da dreht schnell nichts mehr um Talent und Leistungsbereitschaft, sondern um Bestechung, Werbung, Lügen und Kontroversen. Geködert von Berühmtheit, Geld und Einfluss wird der rasante Aufstieg in die Pariser Welt der Reichen und Schönen jedoch nicht die Erfüllung bringen, die sich Lucien erhofft hat.
Zunächst beginnt „Verlorene Illusionen“ mit einer Prise Leichtigkeit, wenn sich der verträumte Lucien gedankenverloren auf der sattgrünen Wiese seinen Gedichten widmet oder sich in der Affäre mit Louise verliert. Der Film hüllt seine naive Unschuld, enthusiastische Hoffnung und den sensiblen Geist in sonnige Bilder. Natürlich hat der ambitionierte Dichter ganz genaue Vorstellungen davon, was ihn in Paris erwarten wird. Die Illusion einer Weltstadt, die ihn mit offenen Armen empfängt und sein Talent zelebriert, wird sich allerdings schon mit den ersten Schritten zwischen Trubel und scheinbarer Hochnäsigkeit nicht bewahrheiten. Nicht nur, dass das Voice-Over die bebilderte, anfängliche Freude mit einem Schleier der Tragödie belegt und damit den Ausgang der Geschichte prophezeit, auch der Stimmungswechsel mit dem Umzug vom Land in die Stadt ist spürbar drückend. Da sind es oft nur kurze fast abschätzige Blicke auf der Straße oder auch später während des ersten Opernbesuchs, die Kameramann Christophe Beaucarne einfängt, die Lucien spüren lassen: Er gehört nicht hierher und schon gar nicht dazu.
„Verlorene Illusionen“ nimmt sich dabei die Zeit und porträtiert hier nicht nur Lucien und dessen Erfahrungen, sondern taucht ein in die komplizierten und komplexen sozialen Geflechte der französischen Gesellschaft, die nach der Revolution nach persönlichem Erfolg und Wohlstand strebte. Und das mit allen (finanziellen) Mitteln. Dabei scheint uns der Regisseur inmitten seiner ausladenden Atmosphäre und der künstlich wirkenden Freundlichkeit immer auch ein Maß an Misstrauen mitzugeben. Er inszeniert die Charaktere der High Society oder der Zeitungsredaktionen manchmal spürbar distanziert, bisweilen verschlossen oder eben trügerisch wohlwollend. Etwas, das nur dem gutgläubigen Lucien nicht aufzufallen scheint. Gerade der sich entwickelnde kleine Machtkampf zwischen ihm und Nathan (gespielt vom kanadischen „Enfant Terrible“ Xavier Dolan) als auch seinem Mentor Etienne ist besonders spannend zu beobachten. Xavier Dolan spielt seinen bereits etablierten Autoren mit Zurückhaltung, entwickelt in fast jeder Szene geradezu ein Mysterium um seine Figur, die gleichzeitig etwas Erhabenes, später allerdings auch Mitleidendes und Verletzliches ausstrahlt. Manchmal wirkt es sogar so, als würde Lucien nicht nur den erarbeiteten Status seines Gegenübers bewundern. Als es nämlich zum Schlagabtausch um gefälschte Kritiken und die Inszenierung einer gewinnbringenden Kontroverse geht, sind die Blicke der beiden derart spannungsbehaftet, dass man meinen könnte, hier auch plötzlich körperliches Begehren zu spüren.
Eine Dynamik, die im Kontrast zu Luciens Verhältnis mit Etienne steht. Der nämlich scheint in dem Neuankömmling sich selbst und seine aufgegebenen Träume wiederzuerkennen. An mancher Stelle wirkt er fast belehrend väterlich, wenn er ihm mit einem verschmitzen Lächeln erklärt, dass die journalistische Arbeit nicht darin besteht die Leser zu informieren, sondern die Teilhaber der Zeitung (und natürlich sich selbst) reich zu machen. Das Gewissen verkauft man dabei am besten gleich mit. Ein Konzept, das für Lucien nur am Ende so nicht aufgehen wird. Der Regisseur entdeckt währenddessen in jeder seiner Figuren etwas, das es zu erzählen lohnt und inszeniert eine beeindruckend ausgestattete und facettenreiche Tragödie, die sich der Komödie nicht gänzlich verschließt und am Ende ganz unerwartet den Nerv der Zeit trifft.

Fazit
Dort, wo falsche Freunde mit ausreichend Champagner begossen werden, verstrickt sich „Verlorene Illusionen“ mit fantastischen Schauspielern in einem Geflecht aus Intrigen, Gewissenlosigkeit, Bestechlichkeit und Tragödien, das aufgrund der kontinuierlichen Stimme aus dem Off allerdings kaum im Verborgenen gesponnen wird. Oft eilt die Erzählstruktur den Bildern zwar voraus, für die dargestellte emotionale Bandbreite, den Unterhaltungswert und das leichtfüßigen Tempo stellt das jedoch keine Hürde dar.
Bewertung
(76/100)
Bilder: ©CINEMIEN Deutschland – PRO-FUN MEDIA GmbH
