Zweifelsohne prägte Sebastian Kurz im letzten Jahrzehnt die österreichische Politik wie kein anderer. Aus dem “frechen” Wiener Lokalpolitiker wurde ein junger Staatssekretär in der Bundesregierung, kurz darauf mit nur 27 der jüngste Außenminister der Welt, bevor er noch Größeres anstrebte: Die Kanzlerschaft, die im verschriftlichten und inzwischen “geleakten” “Projekt Ballhausplatz” minutiös geplant und exekutiert wurde.
von Christian Klosz
Auf den raschen Aufstieg folgte der langsame Fall, getriggert durch die Nachwehen des “Ibiza”-Videos und eines Untersuchungsausschusses, der eher durch Zufallsfunde (SMS, Mails, etc.) detaillierte Einblicke in ein machiavellilistisches Machtsystem eröffnete. Heute sind Sebastian Kurz und seine ehemalige, türkise “Gang” weg vom politischen Fenster und vielfach Beschuldige und Angeklagte der österreichischen Justiz. Filmemacher Kurt Langbein widmet der Karriere des ehemaligen politischen Messias’ der Alpenrepublik in “Projekt Ballhausplatz” ein filmisches Porträt, das heute in den Kinos startet.
Rein formal ist “Projekt Ballhausplatz” ein recht klassischer Dokumentarfilm geworden. Anhand von Interviews mit Journalist/innen, Wegbegleiter/innen, Expert/innen, Politiker/innen anderer Parteien und (ehemaliger, Kurz-kritischer) ÖVP-Politiker, kombiniert mit Archivaufnahmen, zeichnet er die gut 10 Jahre nach, die Kurz die österreichische Politik prägte. Das ist solide gestaltet, montiert und geschnitten und bieten einen guten, chronologischen Überblick. Zitate aus dem “Projekt Ballhausplatz”, dem ominösen “ÖVP-“Drehbuch” zur Machtübernahme, fungieren dabei als handlungsstrukturierende Stichworte.
Das Problem der Doku ist, dass sie so gut wie keine neuen Erkenntnisse bietet. Die Auswahl der Gesprächspartner/innen beschränkt sich auf schon bisher als Kurz-Kritiker/innen bekannte Namen (Matthias Strolz, Barbara Toth, Helmut Brandstätter…), die dasselbe von sich geben wie bereits die letzten Jahre immer wieder. Dass für das Sujet relevantere oder interessantere Persönlichkeiten nicht dabei sind, liegt teils natürlich nicht in der Macht des Regisseurs – wenn die nämlich Interviews verweigern, kann der wenig dagegen ausrichten. Fakt bleibt, dass ein halbwegs informiertes Publikum in “Projekt Ballhausplatz” kaum Dinge hören wird, die nicht bereits hier oder dort vielfach gesagt oder geschrieben wurden.

Leider erfährt man auch wenig über die wahren Hintergründe und Motive der Kurz’schen Machtübernahme. Der Protagonist bleibt ein schwer greifbares Enigma. Zum Teil mag auch das mit der Auswahl der zur Verfügung stehenden Gesprächspartner/innen zu tun haben. Oder mit einer Recherche, die sich auf das beschränkt, was bereits jetzt “common sense” ist. Der große “Knalleffekt”, die große “Enthüllung” bleibt dem Publikum so verwehrt, dem Film fehlt damit die Brisanz ähnlicher, rezenter, internationaler politischer Dokumentarfilme wie “Nawalny” oder “A Storm Foretold” – die zugegeben aber auch einen anderen Zugang wählten.
Nichtsdestotrotz ist “Projekt Ballhausplatz” ein historisch relevantes Zeitdokument geworden, das in Jahren oder Jahrzehnten österreichischen Schulklassen vorgeführt werden könnte, wenn das Thema im Unterricht “Der Anfang vom Ende der österreichischen Demokratie” oder “Der Übergang Österreichs zur populistischen Wahldemokratie” lautet. Es kann auch als Zusammenfassung für all jene wichtig sein, die die letzten politischen Jahre in Österreich verschlafen haben. Oder für ehemals türkis Verblendete bei ihrem Weg zurück in ein normales, geregeltes politisches Leben. Ein “Must-See-Film” ist “Projekt Ballhausplatz” aber leider nicht geworden.
Fazit
Solider und technisch einwandfrei umgesetzter politischer Dokumentarfilm, der seine Pflicht erfüllt, aber vor allem daran krankt, dass er kaum Neues, Relevantes oder gar Brisantes zu bieten hat. Aufstieg und Fall des Sebastian Kurz werden gut zusammengefasst. Er selbst, sein Umfeld, seine Motive bleiben aber weiterhin Enigmen, die auch “Projekt Ballhausplatz” nicht zu erhellen vermag.
Bewertung
(62/100)
Bilder: ©Langbein&Partner