Das “Black Nights Film Festival” in Tallinn, kurz PÖFF, gehört zu dem guten Dutzend A-Festivals weltweit – also Festivals, die eigene Wettbewerbe abhalten (dürfen) – und ist das einzige solche Nordeuropas (der bei uns bekannten Viennale fehlt etwa dieses Prädikat). Nach 2020 berichtet Film plus Kritik auch heuer von dem Festival, das neben Kino- auch Online-Screenings anbietet, und stellt einige Filme aus dem offiziellen Programm in kurzen und mittellangen Kritiken vor.

von Christian Klosz

If you don’t speak German, you can translate the content of this article / the website into English or any other language. To do so, please check out the Google-translate-box (on the right side of the website if you use the desktop-version and by scrolling down to the bottom of the website if you use the mobile version).

“My Neighbor Adolf” von Leon Prudovsky (Eröffnungsfilm)

Udo Kier ist Adolf Hitler! – oder doch nicht? Diese Frage stellt sich der in Südamerika lebende Holocaust-Überlebende Marek Polsky (David Hayman) über die Laufzeit dieser Tragikkomödie hinweg, nachdem er einen neuen Nachbarn (gespielt von Kier) bekommt, dessen stechende Augen ihn scheinbar untrüglich an jene des Führers erinnern, den der begeisterte Schachspieler in den 1940ern bei einem Turnier getroffen hatte. Polsky, ein Einzelgänger, macht es sich zur Aufgabe, die wahre Identität dieses dubiosen Typen namens Herzog aufzudecken, der seltsame Gäste in Uniform empfängt, der noch dazu Linkshänder ist und – wie einst der junge leider-doch-nicht-Künstler Hitler – Ruinen malt, und will so einer großen Verschwörung auf die Spur kommen, nach der Hitler nicht etwa zu Kriegsende gestorben war, sondern sich mit anderen NS-Schergen nach Amerika absetzen konnte.

“My Neighbor Adolf” spielt mit der Wahrnehmung seines Protagonisten, und somit auch mit jener des Zuschauers, der sich ebenso wenig wie Polsky sicher sein kann, ob der neue Nachbar nur ein exzentrischer älterer Herr ist – oder das ultimativ Böse. Hinter der (sanften) Provokation des schwarzhumorigen Sujets verbirgt sich eine Reflexion über den Umgang mit Traumata und das (Über)Leben von Nazi-Opfern und die Frage, ob, wie und wann Unvergessliches vergessen werden kann bzw. in welcher Form es weiterlebt. Die beiden Hauptdarsteller, um die der nicht unkreativ geschriebene Plot zirkuliert, machen einen guten Job, insgesamt fehlt es dem Film aber einerseits an psychologischer Tiefe, andererseits an wirklich provokativer Schärfe, die man beim ersten Hinschauen erwarten mag.

Rating: 59/100

PÖFF 2022

Titelbild: (c) team productions / Luis Cano / Textbild: (c) PÖFF