Es gibt sie immer wieder: Filme, die ein umfängliches Gefühl eines ganzen Jahrzehnts einfangen und in denen man sich verlieren kann. Die einen mit viel Wärme und Menschlichkeit geradezu umarmen und bei denen man sich zu Hause fühlt. Meist sind es die Filme, in denen mit ganz persönlichem Anstrich (vage) Erinnerungen, Erfahrungen und Gefühlen des Regisseurs Gestalt annehmen und die trotz ihrer Individualität so universell erlebbar werden.

von Madeleine Eger aus Berlin

Licorice Pizza“ von Paul Thomas Anderson ließ erst kürzlich im Kino die 70er-Jahre wieder aufblühen, „Call me by your name“ brachte uns mit der Liebesgeschichte gleichermaßen die Jugenderinnerungen von Luca Guadagnino näher und „Sing Street“ versetzte uns mit energiegeladenen Songs zurück ins Dublin der 80er. „The Passengers of the Night“ von Mikhaël Hers, der mit dem Film zum ersten Mal auf den Berliner Filmfestspielen vertreten war, lässt nun unter Synthiepop und mit viel Melancholie eine Zeit in Paris aufleben, die von Aufbruch und Wandel, aber auch von Annäherung und Gemeinsamkeit erzählt.

Während auf den Pariser Straßen überschwänglich und ausgelassen gefeiert wird, die Wahl einen Umbruch markiert, sieht sich Élisabeth (Charlotte Gainsbourg) mit ganz anderen Veränderungen konfrontiert. Nach ihrer Trennung und überstandener Krebserkrankung ist sie plötzlich ohne Arbeit und allein mit ihren Kindern Mathias (Quito Rayon Richter) und Judith (Megan Northam). Den Enthusiasmus, der in der Luft liegt, kann sie vorerst nicht teilen. Als sie allerdings einen Job bei einer nächtlichen Radioshow annimmt, lernt sie Talulah (Noée Abita) kennen. Eine obdachlose Rumtreiberin, in der Élisabeth sich ein Stück weit selbst entdeckt und der sie spontan einen Schlafplatz bei sich zu Hause anbietet. Auf ungeahnte Weise wird die junge Frau während dieser Zeit die gesamte Familie bereichern und in ihrem Leben Spuren hinterlassen.

Gedankenverloren steht Talulah vor der Stadtkarte Paris, auf der kleine aufblinkende Lichter die Routen und Stationen der U-Bahnlinien offenbaren. Wahrscheinlich kennt sie schon einige Ecken der Stadt und sucht nach einem Ziel. Welches verrät Regisseur Hers nicht, Talulah ist eine von den Passagieren der Nacht, die sich treiben lassen. Genauso wie Élisabeth. Schlaflos schaut sie auf die Silhouette der nächtlichen Stadt, hängt ihren Gedanken nach und lässt sich von der Radiosendung mit Vanda Dorval (Emmanuelle Béart), in der Zuhörer ihre eigene Geschichte erzählen, durch die einsamen Stunden geleiten. Ihr Sohn Matthias (Quito Rayon Richter) hingegen ist ein Tagträumer, der sich in der Literatur verliert, mit seinem Freund auf dem Mofa durch die Straßen fährt und seine Mutter regelmäßig früh morgens eingenickt auf dem Sofa findet. Ein Bild dreier Charaktere, die mehr gemeinsam haben als die scheinbare Ziellosigkeit. Vielmehr ist es der diffuse Wunsch nach Zugehörigkeit, einem Platz in der Welt und dem (wieder) entdecken der Liebe.

Obwohl sich Mikhaël Hers nie auf nur eine seiner Hauptfiguren konzentriert und somit nicht bis ins kleinste Detail vordringt, zeichnet er dennoch ein feinfühliges Charakterbild, das es einem leicht macht, sich in diese hinein zu versetzten, ihre Gefühle und ihr Handeln nachzuempfinden. Nicht zuletzt auch, weil sich Hers dafür an einem seiner Vorbilder orientiert: Éric Rohmer. Der französische Regisseur der Nouvelle Vague ist bekannt für seine Filmografie über das bedingungslose lieben und geliebt werden, den Drang von Freiheit und dem (Un-)abhängig sein. Wie Rohmer beobachtet Hers seine Figuren liebevoll, ohne ihnen eine klare Richtung zuzuweisen. Vielmehr treiben diese auf dem Strom der Zeit, werden durch ihre Umgebung von einem Ziel zum nächsten getragen und finden in Gesprächen zum Ausdruck ihrer inneren Gefühle. Ein Zufall ist es also nicht, dass die drei Teenager, als sich ins Kino schleichen, dann Rohmer’s „Vollmond in Paris“ sehen. Die Sensibilität, derer sich vor allem Élisabeth bewusst ist und die Zerrissenheit Talulahs zwischen Freiheit und neuer Familie ist nur ein Teil dessen, was sich als Parallele und nun auch in sehr markanter Weise in „The Passengers of the Night“ wiederfindet.

In einem verträumt spielerischen Geflecht aus Amateurarchivaufnahmen, französischen Pophits und Erinnerungen entwickelt Paris einen ganz eigenen intimen Charakter. In den Bildern der Metropole steckt eine unglaubliche Strahlkraft und Wärme, die nicht nur die Bewunderung und Faszination für die Stadt und das ihr innewohnende pulsierende Leben, sondern auch das Gefühl von Freiraum und Zusammensein einfangen. Gepaart mit den sanften Stimmen der nächtlichen Radioshow, wird man in eine andere Welt entführt und trifft plötzlich Menschen wieder, bei denen es sich so anfühlt, als würde man sie schon ewig kennen. „The Passengers of the Night“ ist eines der Werke, dessen Ende man ein wenig betrauert und dessen wohliges Gefühl man ab der ersten Sekunde vermisst, wenn die Lichter des Kinos einen den Zauber des Moments entreißen.

Fazit

„The Passengers of the Night“ besticht nicht nur durch seine unverkennbar warme und einnehmende Atmosphäre, sondern auch mit nahbaren Figuren, die man ab der ersten Minute ins Herz schließt. Ein ruhiges, sprachgewandtes Drama, das ohne in die Tragik zu entgleiten Platz für Gefühle lässt und irgendwo zwischen Synthiepop und Pianoklängen den richtigen Schritt zu Selbstfindung und Heilung geht.

Bewertung

Bewertung: 10 von 10.

(95/100)

Bild: © 2021 Nord-Ouest Films, Arte France Cinema