Vor 21 Jahren kam ein Animationsfilm in die japanischen Kinos, der auch den Sprung über den großen Teich schaffte und laut imdb mit 357 Mio. Dollars Umsatz mehr als das 18-fache seiner Produktionskosten einspielte. Zudem gewann der Film 2003 den Oscar für den besten Animationsfilm und gilt heute als eines der Aushängeschilder des Studio Ghibli.

von Richard Potrykus

Hayao Miyazakis “Chihiros Reise ins Zauberland” (derzeit auf Netflix verfügbar) erzählt die Geschichte des Mädchens Chihiro, das mit seinen Eltern in eine neue Stadt zieht. Auf dem Weg dorthin verfährt sich der Vater in einem Wald und gelangt in einen mysteriösen Tunnel. Von der Neugier gepackt, durchquert die Familie selbigen und landet hierauf in einem Freilichtmuseum für Architektur. Die Figuren passieren die Gebäude und gelangen schließlich an eine Straße, an der sich diverse andere Häuser und auch Restaurants zu befinden scheinen. Ein Buffet zieht dabei vor allem die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich und so wird aus Neugier echte Gier. Ohne zu wissen, für wen das Essen angerichtet wurde, stürzen sich die Eltern Chihiros auf die Auslage und schlingen in sich hinein, was hinpasst.

Das Mädchen ermahnt die Eltern, einzuhalten, doch sie hören ihr nicht zu. Wütend lässt Chihiro sie allein und erkundet die Umgebung, als sie an ein Badehaus gelangt. Nicht wissend, was es damit auf sich hat, tritt sie näher und wird von einem Jungen namens Haku entdeckt. Dieser scheint sich umgehend um sie zu sorgen und drängt sie dazu, unbedingt zu verschwinden, bevor es dunkel wird.

Chihiro tut, wie ihr geheißen, und rennt los. Sie läuft zu ihren Eltern und muss feststellen, dass sich jene in Schweine verwandelt haben. Auch wird es bereits dunkel und seltsame Dinge beginnen, zu geschehen. Das Mädchen hat ein Zauberland betreten und erneut kommt ihm Haku zu Hilfe. Er nimmt sie mit zu jenem Badehaus und ermahnt sie, einen Job zu finden. Von da an geschehen allerhand bisweilen unheimliche Dinge, während Chihiro einerseits versucht, nicht zu vergessen, wer sie ist, und andererseits einen Weg zu finden, sich und die Eltern zu retten.

In “Chihiros Reise ins Zauberland” verhandelt Miyazaki eine Irrfahrt zwischen Identität und Tradition. Das Mädchen, welches des eigenen Namens beraubt, im Zauberland nur Sen heißt, trifft auf alte Shinto-Götter und zahlreiche Fabelwesen. Da gibt es menschliche Figuren, die aber keine Menschen sind, sprechende Frösche, eine Gottfigur, die einem Rettich entlehnt ist und eine Schüssel als Kopfbedeckung trägt, eine Hexe mit überdimensionalem Kopf und dergleichen mehr. Demgegenüber stammt Chihiro aber aus einem naturalistischen Jetzt, trägt anfangs reguläre Kleidung und liegt auf der Rückbank eines modernen PKW zwischen Koffern und Schnittblumen.

Hayao Miyazaki

Dass die anfängliche Filmwelt trist und profan ist, macht der Film auf mehreren Ebenen deutlich. Unbeeindruckt von der Natur, die sie umgibt, ist Chihiro einer Lethargie verfallen, die dem Umzug und dem Verlassen ihrer Freunde geschuldet ist. Der Umzug an sich ist der neuen Arbeitsstelle des Vaters geschuldet und als die Familie sich verfahren und den Tunnel durchquert hat, entdecken sie in jenem Freilichtmuseum eine Reihe trostloser Gebäude aus unterschiedlichen Zeiten japanischer Geschichte. Hier kommentiert der Vater die Szenerie, indem er sagt, Einrichtungen wie diese seien “in den 90ern […] überall aus dem Boden geschossen”. “Aber”, fährt er fort, “wegen der Wirtschaftskrise [seien] die meisten davon wieder pleite gegangen.”

Die Verbindung von alten Gebäuden und der Wirtschaftskrise unterstreicht Chihiros Lethargie. Es geht um Vergänglichkeit und Verlust, Verlust von realen Dingen (Wohlstand, Freunde) und Verlust von Herkunft. Das Japan von einst konnte nur in Museen konserviert werden und diese Form des Erhalts erfuhr einen Niedergang, als sie zu kostspielig wurde.

Miyazaki lässt die einzelnen Elemente des Films meist unkommentiert geschehen. Auf den Kommentar des Vaters entsteht keine Diskussion. Weder fühlt sich die Mutter an alte Zeiten erinnert, noch fragt die Tochter, was eine Wirtschaftskrise eigentlich wäre. Auch die Wortwahl des Vaters (“überall aus dem Boden geschossen”) unterstreicht, dass die Verdinglichung von Kultur in Form von Attraktionen nichts mehr mit Identität und Herkunft zu schaffen hat.

Ganz dem Wesen der Vergänglichkeit entsprechend, ist sie präsent und findet einfach statt, ohne größere Beachtung zu erfahren. Dies wiederholt sich, als die Hexe Yubaba Chihiros Namen an sich nimmt und ihr ein kümmerliches Sen lässt (im Japanischen ausgeschrieben ist das Schriftzeichen Sen Bestandteil des Namens Chihiro). Und natürlich gerät auch die Verwandlung der Eltern in Schweine bis auf Weiteres in den Hintergrund. Nicht nur betritt das Mädchen ein Zauberland. Nach und nach wird Chihiro die Identität genommen und damit auch die Erinnerung an die Eltern/Herkunft. Im Laufe des Films muss sich Chihiro aktiv dazu ermahnen, nicht zu vergessen.

Der Übergang von der realen Welt hinüber ins Zauberland erinnert an Alices Fall in den Kaninchenbau, ist aber wesentlich schleichender angelegt. Was Miyazaki hier macht, ist eine feingliedrige Kombination aus realer Umgebung und mythischer Parallelwelt, vereint in einem pantheistischen Kosmos, in dem das Göttliche der traditionellen Sagenwelt entstammt, während es sich bei dem Badehaus um einen Ort handelt, welcher im realen Japan vorzufinden ist bzw. war. Nach Andrew Osmond, der sich in seinem Buch „Spirited Away” näher mit dem Film und dessen Herkunft auseinandersetzt, gab es noch in den 1960er Jahren rund 18.000 öffentliche Bäder in Japan, in denen Menschen unabhängig von ihrer Klasse zusammenkamen. Gleichsam, so schreibt er, waren dies Orte, in denen Kinder lernten, dass es mehr gab als Zuhause und Schule. Badehäuser konnten also Orte sein, in denen der Horizont der Kinder erweitert wurde. Im Film wird dieser pädagogischen Komponente freilich der Wind aus den Segeln genommen, da es hier allein um das beherrscht werden geht und den Kommerz, und wie immer, wenn es um wirtschaftlich motiviertes Gewusel geht, passiert auch hier eins nach dem anderen und nichts davon hat für den Film mehr Bedeutung als etwas anderes.

Und dennoch sticht die Episode mit dem Faulgott heraus und dominiert als ikonische Szene über das Filmende hinweg. Während des geschäftigen Treibens im Badhaus, nähert sich durch den Regen träge eine dunkle Gestalt. Erst noch unscheinbar, wird schnell klar, dass es sich dabei um einen Faulgott handelt, einen übernatürlichen Schlammhaufen, der bestialisch stinkt. Obwohl es sich bei dem Badehaus um eine Einrichtung für Götter handelt, ist dieser Gast kein willkommener. Eilig versuchen die Bediensteten die Türen zu schließen, schaffen es aber nicht mehr rechtzeitig, weshalb der Gott Zutritt zum Badehaus erhält.

Es ist nun Sens undankbare Aufgabe, den Gast zu reinigen. Im wahrsten Sinne setzt sie alle Hebel in Bewegung und schafft das Unschaffbare, denn bei dem Faulgott handelt es sich in Wirklichkeit um einen (reinen) Flussgott, der schlicht durch all den Müll, der durch die Unachtsamkeit und Ignoranz der Menschen ins Wasser gelangt ist, bis zur Unkenntlichkeit verdreckt wurde.

Osmond schreibt an dieser Stelle von “religiösen und ökologischen Untertönen” und zieht Parallelen zu rituellen Reinigungen im Shintoismus, die in Flüssen oder unter Wasserfällen stattfinden. Im Rahmen von Miyazakis Œuvre kommt es immer wieder zur Verhandlung von Menschenwelt und Natur und oft geschieht dies im Subtext. Selbst in “Prinzessin Mononoke”, der de facto in einem Wald spielt, wird die Ausbeutung und Zerstörung der Natur zwar dargestellt, aber erst spät als solche offen thematisiert.

In “Chihiros Reise ins Zauberland”, einem Film, der durchdrungen ist von wirtschaftlichem Denken und Handeln, ist es dieser ökologische Aspekt, der eigentlich nicht zu erwarten ist. Dennoch findet er einen umso deutlicheren Ausdruck, als dass der Dreck, der aus dem Gott gezogen und gewaschen wird, nicht einfach nur Unrat ist. Alles beginnt mit einem Fahrrad und am Ende sind es Fässer, Rahmen, eine Rutsche, Haushaltsgeräte, Kommoden und dergleichen mehr. Während der gesamten Prozedur steht Sen allein ihre Freundin Lin zur Seite. Auch das reinigende Wasser wird nur widerwillig hergegeben. Erst, als sich herausstellt, dass der Faulgott eigentlich jemand anderes ist, ist die Gemeinschaft (auf den Befehl Yubabas hin) zur Unterstützung bereit.

Es ist bemerkenswert, welche Strahlkraft diese Szene besitzt. Ein Badehaus, ein künstliches Objekt, welches in eine natürliche Umgebung gebaut wurde und die Existenz daraus bezieht, den Markt aus naturverbundenen Gottheiten zu bedienen, verweigert die Dienste jener Kundschaft, die ihr nicht profitabel oder sittsam erscheint. Erst als der Irrtum aufgeklärt wird, werden die notwendigen Mittel bereitgestellt. Besonders pervers kann hier die Rolle des Wassers gedeutet werden. Einerseits ist es das Produkt, mit dem die Dienstleistung erbracht wird, andererseits ist es ein spirituelles Symbol der Reinigung.

Im weiteren Verlauf des Films soll ein weiterer Flussgott einen Auftritt haben. Jener war lange in Gefangenschaft und während dieser Zeit war der Fluss, aus dem er kam, versiegt. Damit erhält das Wasser in der behandelten Szene eine weitere übergeordnete Bedeutung, denn es ist das Element der betroffenen Gottheit, ohne die es das Element gar nicht erst gäbe. Mit anderen Worten: Solange keine wirtschaftlichen Interessen bestehen, erfahren Umwelt und Natur keine Beachtung und wird die eigene Identität verleugnet, während all jene hofiert werden, die ungeachtet ihrer Herkunft mit Geld nur so um sich schmeißen. Nicht ohne Grund definiert Osmond Teile des Films als “Karikaturen des modernen Japans”.

Im traditionellen japanischen Nō-Theater bilden Masken einen festen Bestandteil. In “Chihiros Reise ins Zauberland” bildet das Ohngesicht, welches eine Maske wie im Nō-Theater trägt, den offensichtlichen Gegenpart zum Faulgott/Flussgott. Blind vor Gier laufen die Bediensteten in Scharen auf den Gast, dessen Identität sie nicht kennen, zu, der bereitwillig jede noch so kleine Geste mit Gold vergütet. Erst als alles zu spät ist und sich der Gast als Allesfresser herausstellt, der auch das Personal verspeist, kippt die Stimmung.

Von all dem bleibt Sen unberührt, nicht, weil sie passiv ist oder eine klischeebeladene Kommunistin jenseits des Materiellen. Osmond bezeichnet die Welt im Film in der Art, wie sie ausstaffiert und inszeniert wird, als eine Welt, die “nicht passiv bewundert wird, sondern betreten und erkundet werden soll”. In diesem Sinne ist Sen/Chihiro schlicht aufmerksam und darauf bedacht, stets nur das Nötigste zu nehmen und sorgfältig mit den Waren und der sie umgebenden Umwelt umzugehen.

Miyazaki und die Künstler*innen im Studio Ghibli verstehen es meisterlich, zauberhafte Geschichten und famose Abenteuer zu erzählen, die witzig und intelligent sind und große Botschaften kommunizieren, ohne dabei den erhobenen Zeigefinger eines Lehrstücks vor sich herzutragen. Und vielleicht hat “Chihiros Reise ins Zauberland” auch uns etwas zu vermitteln, wenn wir vergangenheits- und zukunftsvergessen das nächste Mal darüber diskutieren, was zu reduzieren sei, das Tempolimit oder der Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs.

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Bilder: (c) imgbin

Bild Miyazaki: 文部科学省ホームページ, CC BY 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0, via Wikimedia Commons